tête à tête im Atelier

No 8
Isabel Amann
2024
No 7
Andrea Brandis
2023
No 6
Tine Kaiser
2022
No 5
Bruno Zaid
2021
No 4
Bernd Schneider
2020
tete a tete
No 3
Anne Korek
2019
teteatete
No 2
Stefan Krüger
2018
teteatete
No 1
PiCtosh
2016

„tête à tête im Atelier“ ist eine jährlich stattfindende Ausstellungsreihe. Im Rahmen jeder Ausstellung präsentiert ein Künstlerkollege im Dialog mit Mireille Jautz eine projekthafte Arbeit.

Stefan Krüger
Lyrik
mit Mireille Jautz

Vorahnung
das vertraute Fremde in uns

Wir alle haben Vorfahren, Menschen, die uns vorangegangen sind. Wir wohnen in ihren Häusern, essen Erträge von Pflanzen, die sie einst anbauten, sprechen mit ihren Worten, denken ihre Ideen. Wir verdanken ihnen unsere Existenz – und kennen sie doch kaum. Unter allen Vorfahren nimmt der Ahn eine besondere Rolle ein. Er ist das Zentrum unserer Familie, das verbindende Moment zu unseren Blutsverwandten. In dem Wort Verwandtschaft steckt ‚wenden‘ in der Bedeutung ‚hinwenden, auf etwas hinweisen‘. Es bezeichnet im Ursprung also weniger den familiären Aspekt, sondern einen Personenkreis, dem wir zugewandt sind – und dies mit allen Konsequenzen. Einen Betrunkenen, der uns anbettelt, können wir getrost ignorieren. Doch was, wenn es sich dabei um einen Verwandten handelt? Was, wenn der eigene Cousin schreckliche Verbrechen begangen hat oder der Sohn oder die Mutter? Wir können zwar versuchen, uns abzuwenden; es wird uns jedoch nie vollkommen gelingen. Der Verstoß eines Verwandten hinterlässt eine Leerstelle in einem Kreis, die sich nicht mehr schließt und immer fühlbar bleibt. Denn Familie ist eine Einheit, die nicht auseinandergerissen werden kann. Zu groß ist die Anziehungskraft in ihrem Zentrum, das schwarze Loch, der Ahn. Er ist uns in der Regel unbekannt, ein blinder Fleck. Im besten Fall wird er durch ein paar Daten markiert: ein Name, ein Geschlecht, ein Geburts- und ein Sterbetag. Manchmal erlangte der Ahn Berühmtheit, und es wurde etwas mehr überliefert. Er war Politiker oder Künstler, Verbrecher oder Held. Dann gibt es ein beschriebenes Schicksal, das uns den Ahn ein wenig näherbringt, doch nie nah genug, um sein Wesen zu erkennen. Aber weil wir in direkter Linie von ihm abstammen, steht es uns frei, ihn zu erfinden; denn alles, was wir aus uns selbst schöpfen, schöpfen wir aus ihm. Zu Beginn des Jahres 2017 begannen wir mit dem gemeinsamen Projekt ‚tête à tête‘ und erfanden unsere Ahnen, zehn fiktive Vorfahren aus den letzten zehn Jahrhunderten. Wir teilten uns die Arbeit auf. Jeder hatte freie Hand bei der Erstellung von fünf kurzen Lebensläufen. Darauf brachten wir die Vorfahren zusammen und hatten bis zum Ende des Jahres Zeit, die jeweiligen Lebensgeschichten künstlerisch umzusetzen. Diese Arbeit geschah ohne gegenseitige Einflussname. Wir wussten nicht, was der andere schuf. Mireille Jautz brachte ihre Vorfahren in die Gegenwart. Es war ein Besuch auf Zeit, bei dem die fiktiven Ahnen unweigerlich die Züge der Künstlerin annehmen mussten. Stefan Krüger gab den Ahnen eine eigene Stimme und damit zwangsweise auch eine modernere Sprache, versuchte aber, sie aus ihrer Lebenswelt heraus sprechen zu lassen. Es war ein großer Moment für uns, als die bildenden und textlichen Umsetzungen zusammentrafen und die Ahnen zu unseren gemeinsamen Vorfahren wurden. Manche Werke greifen wie Puzzleteile ineinander. Andere lassen viel Spielraum zur Interpretation. In der Ausstellung am 28.01.2018 in Wiesbaden wurden Bild und Text jedes Vorfahren, die in diesem Band nebeneinander abgedruckt sind, in einem Kunstwerk vereint. Das Bild wurde in einen tiefen Rahmen eingebettet, der Text auf die Glasplatte mit einigem Abstand darüber gesetzt. Das Bild manifestierte sich zwischen den Zeilen des Textes, der Text wuchs aus den Farben des Bildes. Eines wurde durch die Kombination der Arbeiten offensichtlich: Die Werke harmonisieren miteinander und beziehen sich zusammen unzweifelhaft auf eine einzige Person. Es sind unsere gemeinsamen Ahnen. Obwohl wir die Vorfahren nicht kannten, sondern erfanden, sind wir durch sie miteinander verwandt. Dies ist die Chance, die in jedem von uns steckt. Wie fremd und abstoßend auch das unbekannte Gegenüber erscheint, es ist ein Teil von uns. Denn wir alle haben gemeinsame Vorfahren. Sei es der fundamentale Ritter, der heute im Salafisten seine Ausprägung findet, oder der aufgeklärte Byzantiner, der nun vielleicht ohne Anklage in einem Gefängnis in Istanbul sitzt. Es gibt viele Möglichkeiten, das Fremde der anderen in uns selbst zu entdecken und auf diese Weise vertraut zu machen. Wir wählten dazu den Weg der Kunst und wünschen Ihnen viel Vergnügen, diesen Weg nachzugehen!

Mireille Jautz und Stefan Krüger Wiesbaden – Köln am 28.01.2018

www.stefankrueger.net